Verlassenheit

Wahrgenommen werden ist wichtig für uns

Von Anfang an ist es wichtig für uns wahrgenommen zu werden. Für unsere Entwicklung ist es sogar bedeutend, dass die Bezugsperson uns und unsere Bedürfnisse ausreichend wahrnimmt. Werden wir in unseren Bedürfnissen wahrgenommen, können wir überleben. Das Wahrnehmen der Bedürfnisse hilft uns körperlich zu überleben. Unsere Psyche entwickelt sich über ein wahrgenommen werden. Schlussendlich fertigen wir dadurch eine erste Vorstellung von uns selbst aus. So wie uns die anderen wahrgenommen haben, fangen wir an uns selbst wahrzunehmen.

Nicht immer gelingt das Wahrnehmen

Wir alle machen Erfahrungen in denen wir alleine waren und nicht oder nicht in vollem Maße wahrgenommen wurden. Sei es, dass wir allein in der Nacht im Bettchen lagen und uns fürchteten, die Mutter gerade keine Empathie für unsere Quengelei hatte oder der Vater nach der Arbeit zu müde war unser Bedürfnis nach herumtollen zu erfüllen. Weil kein Elternteil jemals all unsere Bedürfnisse erfüllen kann, machen wir Erfahrungen, in denen wir nicht in unserem Empfinden oder Bedürfnissen wahrgenommen werden, wo nicht auf diese eingegangen wird.

Wir fühlen uns verlassen

Werden wir nicht wahrgenommen, fühlen wir uns mit unseren Bedürfnissen und Empfindungen allein gelassen, wir fühlen uns vom anderen verlassen. Verlassenheit bedeutet damit immer, dass ein anderer nicht für uns und unser Empfinden da war. Kommen solche Situationen selten vor, hinterlassen sie nur kleine Wunden. Völlig anders ist es jedoch, wenn jemand aus unserer Kernfamilie nicht in der Lage ist unsere Bedürfnisse oder Empfindungen wahrzunehmen und damit so gut wie nie adäquat darauf reagiert. Dann ist das nicht eine einmalige Erfahrung, sondern unsere Kindheit ist geprägt von einem nicht wahrgenommen werden und einer daraus resultierenden Verlassenheit.

Die körperliche Verlassenheit

Eine körperliche Verlassenheit tritt dann ein, wenn die Bezugsperson uns tatsächlich alleine lässt. Haben wir beispielsweise einen längeren Spitalsaufenthalt oder sind die Eltern durch eine eigene Erkrankung oder einem Auslandsaufenthalt, abwesend, bleiben wir allein zurück. Die Verlassenheit trifft beispielsweise auch jenes Kind, dass zu Hause ist, während die Mutter beim kranken Kind in der Klinik weilt. Schlimmstenfalls tritt eine körperliche Verlassenheit ein, weil ein Elternteil stirbt. Häufig führen aber mildere Umstände zu körperlichen Abwesenheiten, wie eine alleinerziehende Mutter, die arbeiten gehen muss, oder ein Vater der den ganzen Tag auf der Arbeit ist. Sind die Eltern fort, werden wir normalerweise betreut und nicht völlig uns selbst überlassen. Doch das ändert nichts daran, dass die wichtigsten Menschen fehlen. Wir fühlen uns von ihnen allein gelassen. Die körperliche Verlassenheit führt häufig zu einer gefühlten Minderwertigkeit. Wir fühlen uns weniger wichtig als andere Lebensbereiche der Eltern, wie beispielsweise deren Arbeit und Freunde oder unsere Geschwister.

Die emotionale Verlassenheit

Ähnlich sind die Auswirkungen einer emotionalen Verlassenheit, wenn wir in unseren Gefühlen nicht beachtet und damit allein gelassen werden. Wir werden nicht in unserer Traurigkeit gesehen und bleiben alleine mit diesem Gefühl. Besonders tragisch wird es, wenn unsere Gefühle nicht nur missachtet werden, sondern uns diese Gefühle nicht einmal zugestanden werden. „Du brauchst dich nicht so anstellen, denn es gibt gar keinen Grund jetzt zu weinen!“ In unserem Empfinden bleiben wir allein. Die Bezugspersonen helfen uns nicht mit diesen Gefühlen umzugehen, wir finden weder Verständnis noch Trost.

Der Zeitpunkt der Erfahrung bestimmt, wie existenziell die Verlassenheit ist

Wie bei allen Erfahrungen zählt auch hier, je früher die Verlassenheit beginnt, umso schlimmer sind die Auswirkungen. Ein kleines Kind ist hilflos ohne die Eltern, dementsprechend groß ist auch die Angst, wenn keiner da ist. Jede spätere Verlassenheit ruft dann erneut dieselbe panische Angst hervor. Im Vergleich dazu ist es im Teenageralter kein Problem, wenn wir längere Zeit alleine sind. Sind wir aber erst vier Jahre alt, ist das wirklich schlimm. Im Teenageralter ist es auch nicht mehr so wichtig von den Eltern wahrgenommen und verstanden zu werden, denn wir haben ja Freunde, auf die wir ausweichen können. Werden wir als Kleinkind nicht wahrgenommen und verstanden, gibt es wenig Alternativen. Je früher wir Erfahrungen mit der Verlassenheit machen, umso tiefer gehen sie.

Wahrgenommen werden hilft

Gibt es tragende Beziehungen, können diese viel von dieser Verlassenheit ausgleichen. Dann ist vielleicht die Mutter bei der Arbeit und wir sind traurig, aber die Oma passt auf uns auf und tröstet uns. Sie hilft uns über die gefühlte Verlassenheit hinweg. Wir werden in unserem Empfinden wahrgenommen, jemand reagiert auf uns.

Sitzt die Wunde zu tief, ziehen wir uns zurück und zeigen uns nicht mehr

Werden wir immer wieder nicht wahrgenommen, fangen wir an uns zurückzuziehen und nicht mehr zu zeigen. Das geschieht nicht nur in der anfänglichen Eltern-Kind-Beziehung sondern auch in den späteren Partnerschaften. Nimmt uns der Partner nicht wahr, so zeigen wir irgendwann unsere Bedürfnisse oder unser Empfinden nicht mehr. Damit geraten wir in ein unlösbares Dilemma. Zeigen wir uns nicht mehr, verhindern wir zugleich selbst, dass man uns noch wahrnehmen könnte.

In der frühkindlichen Verlassenheit ist das nicht wahrgenommen werden vernichtend

Vor allem am Anfang ist das wahrgenommen werden existenziell für uns. Indem uns andere wahrnehmen helfen sie uns ein stabiles inneres Selbst aufzubauen. Fehlt die Wahrnehmung der anderen, entwickeln wir keine innere Stabilität. Wir geraten in Zustände, wo wir das Gefühl haben zu verschwinden, uns aufzulösen und nicht mehr zu existieren. Solche Zustände lösen Angst und Panik aus. Sie werden vor allem in Situationen ausgelöst, wo wir erneut nicht wahrgenommen und beachtet werden.
Das Gefühl der Verlassenheit kann als eine Kombination von Einsamkeit, Schmerz und innerer Auflösung bezeichnet werden. Es ist eines der Gefühle, die wir schwer aushalten können.

Verlassen werden bleibt ein Thema

Auch wenn die Kindheit vorüber ist, das Verlassenheitsgefühl bleibt. Die eigene Verlassenheit gleicht einer Wunde, die ständig wieder aufgerissen wird. Daher versuchen wir alles Mögliche um ein erneutes verlassen werden zu vermeiden. Anfangs führt dies zu einer Angst vor einem körperlichen Verlassen werden. So passen wir uns häufig den anderen an, versuchen ihnen zu gefallen, tun alles Mögliche, damit uns die anderen ja nicht verlassen.
Unsere emotionale Verlassenheit wird uns erst später bewusst. Dann beginnen wir darum zu kämpfen, dass wir endlich in unserem Empfinden und Bedürfnissen wahrgenommen werden. Im Verlassenen finden wir eine weitere Verwundung – die Wunde des ungeliebt Seins. Wir sind der Überzeugung, wenn wir nur liebenswert, brav, schön, intelligent genug gewesen wären, hätte man uns gesehen und wir wären wichtig gewesen. Die Verlassenheit führt dazu, dass wir für den anderen wichtig sein wollen.
War die Verlassenheit groß, hat sie uns extrem verletzt. Dann zeigen wir ein vermeidendes Verhalten in Beziehungen. Wir gehen nicht mehr auf andere Menschen zu, lassen niemanden mehr körperlich oder emotional zu nahe an uns herankommen. Wir schützen uns. Niemand soll uns jemals wieder so verletzen können. Wird es gefährlich, brechen wir den Kontakt zum anderen ab. Brechen wir den Kontakt aktiv ab, sind wir aggressiv und verletzend, sind wir passiv, werden wir abweisend, kalt und ignorant.

Die Verlassenheit wiederholt sich

Egal wie sehr wir uns anstrengen, wie werden das Verlassenheitsgefühl nicht verhindern können. Kleine Anlässe genügen um die innere Verlassenheit zu aktivieren. Der Partner geht zur Arbeit, oder er meldet sich nicht;  er möchte etwas mit seinen Freunden unternehmen oder  ist gerade nicht empathisch und versteht unser Empfinden nicht bzw. sieht unsere Bedürfnisse nicht.  Solche Momente genügen um die innere Verlassenheit erneut auszulösen.
Die Verlassenheit wird sich also wiederholen. Haben wir in der Zwischenzeit gelernt mit diesen Gefühlen umzugehen, ist es unangenehm, aber wir schaffen diese Erfahrung. Haben wir das nicht gelernt, wird es jedoch häufig destruktiv. Entweder wir werden destruktiv uns selbst gegenüber und werten uns ab, oder wir werden aggressiv dem Partner gegenüber und greifen ihn an. Nichts davon verringert die Not, die wir haben, wenn wir uns verlassen fühlen.

Verlassenheit braucht Anwesenheit

Um die „alte“ Verlassenheit aufzulösen, braucht es eine gegenwärtige Anwesenheit. Jemand der da ist und uns in dieser Verlassenheit wahrnimmt. Fallen wir in die Verlassenheit, kommen wir meist alleine nicht mehr so schnell aus diesem Gefühl heraus. Obwohl wir verletzt sind, vielleicht sogar abwehrend und aggressiv wirken, warten wir im Grunde sehnsüchtig darauf, dass uns der andere entgegenkommt, uns vielleicht sogar in den Arm nimmt und versichert, dass alles wieder gut ist. Der Verlassene wartet darauf, dass ihn einmal jemand in seiner Verlassenheit nicht alleine lässt.
Sind wir verlassen worden, dann ist jemand gegangen oder hat uns jemand nicht wahrgenommen. Wir sind allein zurückgeblieben. Das Gefühl der Verlassenheit braucht daher vor allem eines. Jemanden, der uns dieses Mal nicht verlässt, jemanden der bleibt. Anfangs hilft es, wenn ein anderer bleibt und uns wahrnimmt. Doch schlussendlich geht es darum zu lernen, bei sich selbst zu bleiben und sich selbst wahrzunehmen. Denn das Schlimmste was wir tun können ist uns in der Verlassenheit auch noch selbst zu verlassen.



Ich habe jetzt den Blog Erkenntnisse von der Couch eröffnet. Dort finden Sie weitere interessante Beiträge, wie beispielsweise Vorsicht: Burnoutgefahr! oder die Beitragsserie "Wenn Liebe weh tut". Hier geht es zum ersten Teil dieser Serie: Wenn Liebe weh tut - Bedrohliche Nähe.
©  Mag. Brigitte Fuchs