Selbstliebe

Braucht es eine Selbstliebe?

L. war verärgert über sich. Schon wieder hatte sie zugelassen, dass ein Mann ihr nahe kam. Sie war selbst schuld, dass sie jetzt so verletzt war. Hätte sie sich nicht eingelassen, wäre sie jetzt auch kein heulendes Elend. Sie schwor sich, sich nie wieder zu verlieben!

Herr S. ging hart mit sich ins Gericht. Er musste sich mehr anstrengen und endlich seine Faulheit überwinden. Es konnte doch nicht sein, dass er es einfach nicht schaffte sich für Sport zu motivieren. Sein Freund ging fast täglich joggen, warum war er so eine faule Sau?

Verzweifelt blickte V. in den Spiegel. Sie hatte wohl wieder zugenommen. Ihre Zügellosigkeit beim Essen, ihre fehlende Beherrschung wären somit wohl für jeden sichtbar. Sie sah scheußlich aus und fühlte sich auch dementsprechend. Ihr Vater würde sie sicher darauf hinweisen, dass sie immer noch dicker wurde.

Für Herrn N. waren Treffen mit Frauen eine Katastrophe. Er wünschte sich eine Beziehung, doch was hatte er Frauen zu bieten? Er sah nicht wirklich gut aus, verdiente nicht sonderlich, war weder witzig noch besonders intelligent. Warum sollte eine Frau Interesse an ihm haben?

Warum neigen manche Menschen dazu gemein mit sich zu sein, sich selbst negativ zu beurteilen oder gar abzuwerten? Die Art und Weise, wie wir mit uns umgehen, hat viel mit erlernten Mustern zu tun. Ohne uns dessen bewusst zu sein kopieren wir das Verhalten von wichtigen Menschen in unserem Leben.

Beziehungserfahrungen beeinflussen unsere Beziehung zu uns selbst

Menschen, die in positiver wie negativer Form bedeutsam für unsere Entwicklung waren, bestimmen maßgeblich, wie wir uns selbst behandeln. So, wie sie sich uns gegenüber verhalten haben, so reagieren wir auf uns selbst.

Damit wir psychisch lernen, braucht es entweder ein einschneidendes Erlebnis oder eine hohe Zahl an Wiederholungen. Eine Mutter, die ab und zu ablehnend reagiert, hat noch keine großen Auswirkungen. Wenn die Mutter aber gehäuft ablehnend reagiert, so wird die mütterliche Ablehnung verinnerlicht. Ein Vater, der Frauen primär nach ihrer Attraktivität beurteilt oder bei Männern deren Karriere oder Sportlichkeit bewundert, wird Auswirkung auf seine Kinder haben. Dann werden seine Kinder wahrscheinlich versuchen attraktiv, erfolgreich und sportlich zu sein. Gelingt das nicht, wird die verinnerlichte beurteilende Vaterstimme aktiviert.

Der menschliche Verstand reagiert wie ein Papagei, der alles, was er öfter hört, übernimmt. Die aufgenommenen Inhalte werden weder überprüft noch in Frage gestellt. Das liegt daran, dass sich Aussagen sehr früh einbrennen, noch bevor wir einen kritischen oder reflektierten Verstand entwickeln konnten. Aus äußeren Stimmen werden innere Gedanken, aus äußeren Verhaltensweisen innere Haltungen. Sind wir dann erwachsen, ändert sich an dieser Polung nichts mehr. Die reale Stimme der Mutter/ des Vaters wird nicht mehr benötigt. Wir haben das, was sie uns vermittelten, schon längst verinnerlicht.

Die Aktivierung der inneren Stimmen und Haltungen

Die verinnerlichte Stimme oder Haltung wird erst aktiviert, wenn wir uns in einer ähnlichen Situation oder Gefühlslage befinden. Waren wir beispielsweise verletzt und die Mutter reagierte verständnislos und ablehnend, so haben wir eine Verknüpfung von „verletzt mit verständnislos und ablehnend“ erworben. Das führt dazu, dass wir kein Verständnis für uns haben, wenn wir verletzt sind und sogar ablehnend auf unsere Verletzung reagieren.

Gerade in Situationen wo es uns nicht so gut geht, können wir erkennen, ob wir wertschätzende und fürsorgliche Stimmen oder abwertende und negative Stimmen entwickelt haben.

Alternative Beziehungserfahrungen können korrigierend wirken

Positive Beziehungserfahrungen helfen. Wenn der Vater streng und ignorant war, der Großvater aber liebevoll und zugewandt, so verinnerlichen wir beide Stimmen. Dann gibt es eine strenge und ignorante Vaterstimme, wie ein liebevolle zugewandte Großvaterstimme. Werden beide aktiviert, erleben wir einen Widerstreit in uns. Eine Stimme, die für uns spricht, wie eine die gegen uns spricht.

Die uns innewohnende Tendenz, Beziehungserfahrungen abzuspeichern, macht sich die Psychotherapie zu nutze. Gelingt die therapeutische Beziehung, erfahren wir dort Offenheit, Wertschätzung und Akzeptanz und lernen so, uns selbst liebevoller zu betrachten und netter mit uns zu sein.

Sich selbst ein Freund sein

In jenen Bereichen, wo wir gelernt haben uns selbst abzuwerten, ist Selbstliebe geradezu unmöglich. Wie sollten wir uns selbst für unsere Abhängigkeit, Faulheit, Zügellosigkeit, Erfolgslosigkeit, Eifersucht oder für unsere fehlende Attraktivität lieben? Wenn wir versuchen, uns in diesen Bereichen selbst zu lieben, belügen wir uns doch nur selbst. Eine negative Bewertung kann nicht mit Liebe einhergehen und etwas, dass wir negativ bewerten, plötzlich als positiv anzusehen, wird auch nicht funktionieren. Wie sollte ich denn meine Faulheit, Abhängigkeit oder fehlende Attraktivität auf einmal gut finden?

Das ist aber kein Problem, denn psychisch betrachtet braucht es keine allumfassende Selbstliebe. Es ist völlig ausreichend, wenn wir lernen, netter mit uns zu sein, uns selbst ein Freund zu sein. Das ist nicht so schwer. Wir brauchen uns nur die Frage stellen, wie würde ich bei einem Freund/einer Freundin reagieren, wenn es der gerade so geht, wie es mir geht. Die meisten sind zu anderen Menschen nicht so streng oder gemein, wie mit sich selbst. Sich selbst ein Freund zu sein, kann uns helfen, die verinnerlichten alten destruktiven Stimmen zu überschreiben.

Es ist Zeit, den kindlichen Stimmen zu entkommen.

Ich habe jetzt den Blog Erkenntnisse von der Couch eröffnet. Dort finden Sie weitere interessante Beiträge, wie beispielsweise Vorsicht: Burnoutgefahr! oder die Beitragsserie "Wenn Liebe weh tut". Hier geht es zum ersten Teil dieser Serie: Wenn Liebe weh tut - Bedrohliche Nähe.

©  Mag. Brigitte Fuchs