Hochsensibilität und Hochsensitivität

Alltagserfahrungen von Hochsensitiven

Frau B. befindet sich in einer gemütlichen Runde. Alles scheint zu passen und die Stimmung ist ausgelassen. Doch bald beginnt es in ihr zu rumoren. Wie immer bemüht sie sich, versucht ihr inneres Befinden nicht so ernst zu nehmen und sich anzupassen. Aber irgendwann hält sie diesen inneren Zustand nicht mehr aus. Sie beginnt einen Streit. Die vorherige Gemütlichkeit der Runde ist schlagartig zerstört. Jetzt rumort es nicht mehr in Frau B. sondern in ihrem Umfeld. Obwohl sie sich auch damit nicht wirklich wohl fühlt, gibt es doch einen Moment, in dem sie kurzfristig innerlich entspannter ist. Wie immer in ihrem Leben geben ihr die anderen die Schuld an der Situation: „Sie ist ein Störenfried“ und die Vorwürfe kommen bei ihr an. Frau B. fühlt sich schuldig und beschließt sich in Zukunft noch mehr zu bemühen.

Herr A. besucht ein Familienfest. Als er ankommt scheinen sich alle zu amüsieren und die Anwesenden reden miteinander. Er bleibt in der Tür stehen und überblickt den Raum. Seine innere Anspannung steigt schlagartig an. „Nein“, denkt er sich. „Ich halte das nicht aus. Wieso bin ich überhaupt da, was mache ich hier. Ich wäre besser gar nicht erst hergekommen.“ Zu Hause ging es ihm noch sehr gut, jetzt aber fühlt sich Herr A. extrem unwohl und er verlässt die Feier sehr rasch wieder.  Er versteht nicht was mit ihm los ist. Es ist nicht so, dass er seine Familie nicht mag, aber er hält sie einfach nicht aus, vor allem wenn sie so geballt auftreten. Im Kontakt mit einzelnen geht es ihm relativ gut, aber Familienveranstaltungen geben ihm jedes Mal den Rest. Früher hat er sich in solchen Situationen betrunken, um die Situation irgendwie auszuhalten, aber das änderte nichts wirklich. Herr A. hat zum Glück eine verständnisvolle Familie, die ihn zwar etwas eigenartig und als einen seltsamen Eigenbrötler empfindet,  aber mittlerweile  haben sie seine „komische Art“ akzeptiert.

Obwohl Frau B. und Herr A. unterschiedlich reagieren, haben sie etwas gemeinsam. Beide sind hochsensitiv. Doch beide wissen nichts davon, verstehen selbst nicht, was in ihnen vor sich geht. Sie geraten immer wieder in ähnliche Situationen. Mittlerweile zieht sich Herr A. zunehmend aus nahen Sozialkontakten zurück. Er ist zum Ergebnis gekommen, dass er Menschen nicht lange aushält. Frau B. zieht sich ebenfalls zurück, da sie die Einstellung entwickelt hat, dass ihr andere Menschen nicht gut tun.  Wirklich glücklich sind beide damit nicht.

Übliche Erfahrungen hochsensitiver Menschen

Hochsensitive haben einige Gemeinsamkeiten. Sie sprechen  wenig über sich selbst, zeigen anderen selten wie es ihnen wirklich geht. Nicht weil sie sich generell zurück halten, sondern weil  sie laufend das Gefühl haben, dass sie anders sind, dass sie die Dinge anders erleben und dass sie sowieso von anderen nicht verstanden werden. Solche Erfahrungen häufen sich in ihren Beziehungen. Genau in jenen Momenten, wo sie aufmachen, ehrlich sind und sich so zeigen wie sie wirklich sind, machen sie die Erfahrung, dass sie nicht ausgehalten werden oder den anderen überfordern. Öffnen sie sich in ihren Partnerschaften häufen sich die Erfahrungen, dass der andere kurz darauf aus ihrem Leben verschwindet. Der Gedanke ist naheliegend, „dass wohl etwas nicht mit einem stimmt.“

Während sie selbst erleben, dass sie nicht wirklich jemals so sein können wie sie sind, ergeben sich immer wieder Begegnungen, wo ihnen andere Menschen, oft völlig Fremde, ihr Herz ungefragt ausschütten. In solchen Kontakten verlieren sie rasch die Distanz und fühlen sich verantwortlich für die Inhalte, die ihnen die anderen erzählen. Während die anderen Menschen entlastet aus ihrem Leben wieder verschwinden, wirken solche Begegnungen in ihnen noch ziemlich lange nach. Generell denken sie gerne lange über ihre Kontakte, Begegnungen und die erlebten Situationen nach und versuchen sämtliche Details zu analysieren. Dabei entwickeln sie häufig Schuldgefühle oder bekommen ein schlechtes Gewissen, weil ihn ihnen das Gefühl auftaucht, sie hätten etwas falsch gemacht oder zu wenig gegeben.  Während sie sich selbst laufend hinterfragen, wird der andere oder die Situation relativ selten in Frage gestellt.

Doch betrachten wir noch weitere Erfahrungen von hochsensitiven Menschen:

Frau M. sitzt mit einer Freundin in einem Lokal. Sie freut sich, ihre Freundin wieder getroffen zu haben. Doch innerhalb kurzer Zeit verändert sich alles. Schlagartig fühlt sie sich unwohl und will nur noch fluchtartig das Lokal verlassen.

In großen Einkaufshäusern fühlt sich Herr L. elendig. Während andere in dieser Atmosphäre aufblühen, hat er das Gefühl, förmlich auszubluten. Nur in der Natur oder bei sich allein zu Haus mit seinen Tieren fühlt er sich wirklich wohl.

Für Frau S. sind private und berufliche Beziehungen ein permanenter Spießroutenlauf. Laufend hat sie das Gefühl, den Erwartungen der Menschen in ihrer Umgebung nicht entsprechen zu können, obwohl sie sich redlich bemüht. Ihr Partner lacht sie aus. Er meint, sie soll doch nicht so viel auf die anderen hören oder nicht auf diese achten, sondern sie solle einfach nur das machen, was sie selbst will. Obwohl sie ihm recht gibt, versagt sie nächstes Mal erneut auf ganzer Linie.

Was ist Hochsensitivität?

Die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron prägte 1996 den Begriff „the highly sensitive Person“. Hochsensitivität wird häufig auch als Hochsensibilität oder Hypersensibilität bezeichnet. Die Hochsensibilität ist ein relativ neuer Forschungsbereich und es liegen noch sehr wenige wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse vor. 

In diesem Artikel werden die Begriffe Hochsensitivität und Hochsensibilität nicht als Synonyme verwendet, sondern es wird zwischen Hochsensitivität und Hochsensibilität unterschieden.

Einfach ausgedrückt bedeuten Hochsensibilität und Hochsensitivität, dass ein Mensch „mehr und intensiver wahrnimmt“ als die meisten Menschen in seiner Umgebung. Dabei handelt es sich um eine gewisse Art und Weise der Wahrnehmung und nicht um eine Störung!
Betrifft die erweiterte Wahrnehmung primär die körperlichen Basissinne, so kann von einer Hochsensibilität gesprochen werden. Geht die erweiterte Wahrnehmung über die reinen Basissinne hinaus, wird hier der Begriff Hochsensitivität verwendet. Hochsensitive Menschen reagieren auf mehr, sie nehmen auch Schwingungen auf und können diese wahrnehmen.


Unser übliches Verständnis von Sensibilität hat nichts mit dieser Hochsensitivität gemeinsam. Die Sensibilität bezieht sich auf die Person selbst und nicht auf die Wahrnehmungsfähigkeit. Eine „sensible" Person nimmt gleich viel wahr wie die Menschen in ihrem Umfeld, aber sie kann mit gewissen Dingen nicht so leicht umgehen wie die anderen.  Das Umfeld nimmt daher Rücksicht auf eine sensible Person, diese wird als beschützenswert, zum Teil auch als schwach eingestuft.

In diesem Artikel werden empirische Beobachtungen bzgl. der Hochsensitivität vorgestellt, die Erfahrungen und Erlebnisse hochsensitiver Menschen werden beschrieben und zusammengefasst und der Unterschied zwischen Sensibilität und  Hochsensitivität wird aufgezeigt.

Erweiterte und intensivierte Wahrnehmung

In der Wahrnehmung werden die meisten Informationen aussortiert bzw. herausgefiltert, noch bevor sie überhaupt bewusst zugänglich sind. Es sind jene Informationen, die keine Relevanz für die momentane Handlungsebene haben, oder auch jene, die nicht in die eigenen Vorstellungen und Erwartungen des Menschen passen. Bei hochsensitiven Menschen ist diese Filterfunktion allerdings stark verringert bis kaum vorhanden. Sie erspüren oder nehmen viel mehr auf und wahr als die anderen.  Während eine normale Wahrnehmung vielleicht drei Informationen gleichzeitig ins Bewusstsein bringt, nimmt eine hochsensitive Wahrnehmung ca. das zehnfache an Information auf. Einer der größten Irrtümer von Hochsensitiven ist, dass sie davon ausgehen, dass alle Menschen gleich wahrnehmen und zwar so, wie sie selbst. Doch genau die unterschiedliche Art der Wahrnehmung ist der Grund, warum Hochsensitive sich nicht verstanden fühlen.

Die Wahrnehmung beinhaltet die Basissinne, wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Spüren, aber auch erweiterte Sinne, wie einen sechsten Sinn. Menschen mit einer Hochsensitivität nehmen Informationen vermehrt auf und reagieren intensiver darauf. Dies bedeutet jedoch auch, dass ihnen Reize häufig zu intensiv sind, d.h. es ihnen oft schnell zu laut, zu intensiv riechend, optisch zu intensiv und überfordernd ist. Sie fühlen sich von all den Reizen viel schneller erschlagen, ermüdet, ausgelaugt und erledigt als andere Menschen. Für Menschen mit Hochsensitivität ist es daher wichtig, sich immer wieder zurück zu ziehen, am besten in eine relativ reizlose Umgebung, in der weder Menschen noch Radio, Fernseher oder andere Quellen Reize auslösen.  Gerade Fernsehen ist für viele Hochsensitive häufig schlecht aushaltbar. Ihnen gehen Filminhalte oft näher als anderen Menschen. Oft reicht ein angeschaltener Fernseher, dass sie unrund werden. Während sich viele Menschen wohl fühlen wenn immer etwas los ist und viele verschiedene Reize vorhanden sind, fühlen sich hochsensitive Menschen von reizintensiven Situationen rasch erschlagen, mitgenommen sowie erschöpft.

Die Wahrnehmung von Hochsensitiven ist in mehreren oder allen Bereichen erweitert. Ein Mensch mit einer Hochsensitivität nimmt viel mehr von seiner Umgebung in seinem System auf. Er ist wie ein Schwamm, der sämtliche Eindrücke förmlich aufsaugt. All diese Eindrücke setzen ihm oftmals sehr zu und schaden ihm teilweise sogar. Hochsensitive reagieren meist völlig unbewusst und automatisiert auf ihr Umfeld. Sie spüren und erspüren oft Stimmungen, Schwingungen, Spannungen,  „unausgesprochene Konflikte“, negative Haltungen und Erwartungen und reagieren darauf. D.h. Hochsensitive nehmen Phänomene wahr und reagieren auf diese, während die anderen Menschen diese Phänomene nicht wahrnehmen und auch auf diese in keinster Weise reagieren. Vieler dieser Phänomene liegen bei den meisten Menschen unter der Wahrnehmungsschwelle und können daher von diesen auch nicht wahrgenommen werden. Hochsensitive hingegen nehmen diese Phänomene laufend wahr und können diese Wahrnehmungen auch nicht kontrollieren und abschalten. Hochsensitive sind in ihrer Wahrnehmung sehr offen und sämtliche Informationen und Zustände aus der Umgebung werden in ihr Wahrnehmungssystem aufgenommen.  Von dieser Form der Wahrnehmung gibt es keinen Urlaub, sie sind – ob sie es wollen oder nicht – laufend auf Empfang. Hochsensitive Menschen sind wie Seismographen, die anschlagen, noch bevor andere etwas spüren. In ihrem Umfeld wirken sie häufig als Stabilisatoren, weil ihr System sämtliche Schwingungen aufnimmt und das Umfeld dadurch automatisch entlastet wird.

Vor allem in jungen Jahren bemühen sich hochsensitive Menschen sehr, so zu sein wie die anderen. Sie wünschen sich die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Gleichaltrigen; Eigenschaften, die sie von Anfang an nicht haben. Hochsensitive Menschen wirken bereits in ihrer Kindheit und Jugend älter als sie tatsächlich sind. Hochsensitive Kinder und Jugendliche sind gerne allein, haben oftmals einen älteren Freundeskreis und  unterstützen ihr Umfeld häufig auf der emotionalen Ebene.

Die Ebenen, auf denen sich die Hochsensibilität und Hochsensitivität zeigen

Die Hochsensitivität kann sich auf sämtlichen Ebenen zeigen und Auswirkungen haben.

Körperliche Ebene: die körperliche Wahrnehmung ist sensibilisiert und alle Reize (wie z.B. Gerüche, Geschmack, Berührungen, akustische oder optische Reize) werden verstärkt wahrgenommen und gespürt. So berichten Betroffene bspw. von folgenden Symptomen: rasche Ermüdung der Augen,  verschwommenes Sehen,  schlecht werden bei „normalen Gerüchen“, massiv unangenehme Gefühle bei manchen Berührungen.

Manche Menschen sind in einem solchen Ausmaß sensibilisiert, dass sie sogar auf körperliche Zustände anderer Menschen reagieren. Wenn beispielsweise jemand im Umfeld unter Spannung steht, kann die körperliche Anspannung eines Hochsensitiven schlagartig ansteigen.

Ist nur die körperliche Ebene betroffen, d.h. ist nur das Empfinden der Basissinne sensibilisiert, wird von Hochsensibilität gesprochen. Betrifft die erweiterte Wahrnehmung auch noch andere Ebenen wird von Hochsensitivität gesprochen. Nicht jeder hochsensible Mensch ist auch automatisch hochsensitiv.

Obwohl Hochsensitive ihre körperlichen Signale sehr intensiv wahrnehmen, ist ihre Beziehung zum eigenen Körper meist relativ distanziert. Sie haben wenig Bezug zum eigenen Körper und identifizieren sich nicht über ihren Körper. Der Körper wird eher als mechanisch empfunden, wie eine Maschine, die ihnen dient. Meist fühlen sie sich nicht einmal sonderlich als körperliches Wesen. Der Körper tritt eher nur dann in den Fokus der Aufmerksamkeit wenn er schmerzt oder unrund ist. Ansonsten ist das eigene Erleben tendenziell „gefühlt körperlos“. Dies ist paradox, obwohl hochsensitive Menschen sehr wenig Distanz zu anderen, zu deren Empfindungen und Erwartungen sowie generell zu den Umgebungsbedingungen haben, haben sie doch eine extrem große Distanz zum eigenen Körper, Körperempfinden und –erleben.

Auf der Gefühlsebene: Menschen mit Hochsensitivität haben ein breites und intensives Gefühlsspektrum. Sie nehmen ihre eigenen Gefühle intensiver wahr und können emotional mehr Tiefe erlangen als andere. Aber sie stehen auch laufend in Resonanz mit dem Gefühlsleben ihres Umfeldes. Meist können sie sich nur schlecht von den Gefühlen anderer distanzieren und sie erleben die  Gefühlen der anderer meist so, als wären diese ihre eigenen. Hochsensitive sind quasi automatisch empathisch veranlagt. Diese Empathie (= gefühlte Einfühlsnahme) wird von den Hochsensitiven selbst nicht unbedingt gewünscht oder angestrebt; sie ist - ohne eigenes Zutun - einfach da bzw. passiert einfach.

Auf der mentalen Ebene: Menschen mit Hochsensitivität nehmen Dinge in ihrer Umgebung intuitiv wahr. Sie reagieren extrem stark auf die Menschen und Situationen in ihrem Umfeld. Sie sind in der Lage, Anforderungen, Erwartungen oder Einstellungen, aufzunehmen und intuitiv zu erfassen auch wenn bzw. obwohl sie nie wirklich ausgesprochen werden. All dies geschieht jedoch völlig automatisch und unbewusst und ruft eine „passende" Reaktion hervor. So lange Hochsensitive auf dieser Ebene unbewusst reagieren, sind sie vom Umfeld extrem beeinflussbar. Ohne dass es ihnen bewusst ist, versuchen sie laufend unausgesprochene Erwartungen und Bedürfnisse der Umgebung zu erfüllen. Für sie sind unausgesprochene Dinge klar wahrnehmbar, obwohl ihnen diese Dinge oftmals nicht wirklich bewusst werden. Hochsensitive reagieren unmittelbar auf Doppelbotschaften, auf subtile Haltungen oder Erwartungen, die in Kommunikationssituationen mitschwingen. Ohne es zu wissen spüren sie die innere Haltung oder Einstellung der anderen und reagieren darauf.

Gerechtigkeitssinn, geringe Stresstoleranz und Abgrenzungsprobleme

Die Wahrnehmungsbreite und der Bewusstseinsgrad hochsensitiver Menschen variiert. Die meisten Hochsensitiven reagieren auch dann, wenn sie selbst nicht einmal betroffen sind, wenn bspw.  andere Menschen in ihrer Gegenwart abgewertet werden. Daher entwickeln die meisten einen ausgesprochenen inneren Gerechtigkeitssinn. Für sie ist es ganz wichtig, dass Dinge ausgeglichen sind. Sie können sich nämlich nicht nur in andere einfühlen, sie fühlen wie der andere bzw. erleben Situationen wie der andere.

Weil dauernd so viele Reize ungefiltert auf den Hochsensitiven einprasseln, haben diese häufig eine geringe Stresstoleranz. Vieles in ihrer Wahrnehmung steht permanent unter Anspannung. Kommt von außen noch ein weiterer Stressor dazu, wird ihnen rasch alles zu viel und es geht gar nichts mehr.

Ein zentraler Punkt der Hochsensitivität ist, dass diese Menschen keine Distanz zu den Empfindungen, Zuständen anderer Menschen oder den Schwingungen im Umfeld haben.  Dies ist ein Resultat ihrer Art der Wahrnehmung. Sie nehmen die Reize, Impulse, Stimmungen und Schwingungen der Umgebung nicht außerhalb von sich wahr. Wie ein Schwamm wird alles aufgesaugt, alles gelangt ungefiltert in ihr eigenes System und damit ist nichts davon mehr außerhalb von ihnen. Hochsensitive Menschen nehmen alles über ihr eigenes System wahr. Weil ihr System damit quasi  ein permanenter ungefilterter Spiegel des Umfeldes ist, ist ihnen selten klar, was jetzt wirklich etwas Eigenes ist und wann sie nur auf Impulse, Reize und sonstige Phänomene reagieren, die auf sie einströmen.

Bei hochsensitive Menschen entwickelt sich bereits in der Kindheit das Gefühl „mit mir stimmt etwas nicht“, welches sich dann ständig wiederholt. Dieses innere Grundgefühl resultiert aus den laufenden widersprüchlichen Erfahrungen. Sie erleben und nehmen wahr, dass Stimmungen und Situationen, die sie selbst sehr belasten, den meisten anderen Menschen nichts auszumachen scheinen, ja, dass diese Stimmungen und Situationen oft von anderen sogar stimulierend und positiv empfunden werden. Während sie massiv auf doppelte Botschaften reagieren, sie diese kaum aushalten, scheinen diese Doppelbotschaften für andere gar nicht zu existieren. Gerade durch die sensitive und differenzierte Wahrnehmung wird bei den Hochsensitiven laufend das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit ausgelöst bzw. bestätigt.

Der Unterschied zwischen Sensibilität und Hochsensitivität

Gerade hochsensitive Menschen nehmen sich selbst selten als sensibel wahr oder werden von anderen so wahrgenommen.

Unser übliches Verständnis von Sensibilität hat nichts mit einer Hochsensitivität gemeinsam. Ein sensibler Mensch wird von anderen als solcher erkannt und bekommt diese Zuschreibung.  Eine „sensible" Person nimmt gleich viel wahr wie die Menschen in ihrem Umfeld, aber sie kann mit gewissen Dingen nicht so leicht umgehen wie die anderen.  Das Umfeld nimmt daher Rücksicht auf eine sensible Person, diese wird als beschützenswert, zum Teil auch als schwach eingestuft. Ein sensibler Mensch bekommt Verständnis dafür, dass er mit bestimmten Situationen und Dingen nicht umgehen kann, man verschont bzw. beschützt ihn im weitesten Sinne vor der harten Realität. Während „sensible Menschen“ im Umfeld einem Schonraum bekommen ist dies bei Hochsensitiven nie der Fall. Im Gegenteil, sie rufen ganz andere Einschätzungen des Umfeldes hervor, werden sogar als eher stark angesehen, als jemand, der viel aushält. Ein großer Unterschied liegt darin, dass sie im Vergleich zu den anderen viel mehr wahrnehmen und somit auch tatsächlich in der Lage sind mehr auszuhalten. Selten wird vom Umfeld überhaupt nur ansatzweise wahrgenommen oder erkannt, was wirklich in einem  hochsensitiven Menschen vor sich geht. Dies hat damit zu tun, dass ein Hochsensitiver nicht wie ein Sensibler auf sich selbst bezogen ist. Beim Hochsensitiven sind laufend alle Sensoren nach außen gerichtet und offen. Der Hochsensitive hat ein erweitertes Zentrum, er ist gleichermaßen nach außen wie nach innen bezogen.

Im Vergleich dazu ist der Sensible auf sich selbst bezogen. Bei allen Dingen, die stattfinden, geht es darum, was sie ihn ihm auslösen und bewirken. Dies wird dann in einer verbalen oder nonverbalen Form der Umwelt zurück gemeldet.

Unkontrollierbarkeit und Aussensteuerung

Der Hochsensitive nimmt laufend sämtliche Schwingungen und Stimmungen der Umwelt wahr. Er kann das gar nicht steuern oder abschalten. Es kann ihm schon längst zu viel sein, überfordern, extrem mitnehmen – er wird wahrscheinlich nicht viel davon sagen oder zeigen. Im Gegensatz zum Sensiblen wird er nämlich weiterhin laufend wahrnehmen, wie es dem anderen gerade geht, welche Bedürfnisse, Erwartungen dieser gerade hat. Er kann diese Wahrnehmungen nicht ausblenden oder stoppen. Damit wird er erfahrungsgemäß mitbekommen, dass der andere gerade nicht offen ist und dieser ihm darum gerade gar nicht zuhören kann; er "weiß", dass der andere gerade selbst bedürftig ist und etwas von ihm erwartet. Sobald der Hochsensitive das jedoch wahr nimmt, zieht er sich mit seinen eigenen Bedürfnissen sofort wieder zurück. Der andere hat erneut eine höhere Priorität in seinem Leben als er selbst.

Hochsensitive Menschen wären durchaus häufig selbst bedürftig, denn diese Form der Wahrnehmung setzt ihnen zu und laugt sie aus. Doch gerade weil sie merken, dass der andere mit sich selbst beschäftigt ist und nichts zu geben hat, ziehen sie sich wieder zurück und stellen keine Ansprüche. Ansprüche und Grenzen tauchen erst dann auf, wenn es für den Hochsensitiven kein Entkommen mehr gibt, wenn er bereits so weit über seine eigenen Grenzen gegangen ist, dass ein innerer Zusammenbruch droht. Dann können, für das Umfeld meist völlig überraschend, massive Ansprüche und Vorwürfe auftreten.

Um diese Dynamik zu begreifen, muss man den Hochsensitiven verstehen. Was oberflächlich betrachtet dumm erscheint, macht in seinem System Sinn. Seine Sensoren sind großteils nach außen gerichtet und bleiben dies auch. Doch gerade diese Form der Wahrnehmung beinhaltet ein unlösbares Dilemma und schafft viel Leid. Nachdem seine Sinne permanent auf die Umgebung ausgerichtet sind, wird er sich nur wirklich wohlfühlen und entspannen können, wenn das äußere Umfeld entspannt ist. Im Außen wird aber nie alles passen, es wird immer wieder Spannungen, Ablehnungen, Erwartungen, negative Stimmungen etc.  geben.

Die Lösung besteht in einer bewussten Wahrnehmung

Ein Hochsensitiver kann im Außen keine Lösung finden. Daher beginnt er seine Hochsensitivität immer mehr zu verstecken und sich zurück zu ziehen. Obwohl die Hochsensitivität letztendlich die Wahrnehmung und damit alles in seinem Leben bestimmt, bekommt sie keinen bewussten Raum. Anstatt als Gabe wird sie häufig als eigene Unfähigkeit oder als Mangel erlebt.  Im Vergleich zum sensiblen Menschen nimmt der Hochsensitive selbst keinen oder nur sehr wenig Raum ein.


Gelingt es dem Hochsensitiven sich seiner Wahrnehmung bewusster zu werden und ihr zu vertrauen, kann die Hochsensitivität die größte Gabe in seinem Leben werden.


Ich habe jetzt den Blog Erkenntnisse von der Couch eröffnet. Dort finden Sie weitere interessante Beiträge, wie beispielsweise Vorsicht: Burnoutgefahr! oder die Beitragsserie "Wenn Liebe weh tut". Hier geht es zum ersten Teil dieser Serie: Wenn Liebe weh tut - Bedrohliche Nähe.
©  Mag. Brigitte Fuchs